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Forget me not – Queere Komponist:innen / PHŒNiX festival

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Matthias Stätzel und Tim Stolte. Foto: Samuel Karsko

Unsere gemeinsame Kultur

Forget me not heißt das Projekt von Basssbariton Tim Stolte, in dem er hilft queere Komponist:innen, mit neuen Augen zu sehen: Denn das Leben eines Menschen hat immer Einfluss auf seine Kreativität – dazu gehört auch, dass sie sich – wie Frédéric Chopin – zu ihren Lebzeiten nicht frei zu ihrer Sexualität bekennen konnten.

 

Foto: Samuel Karsko

Chopins Liebesbriefe wurden später irreführend übersetzt, viele Briefe sind verschwunden – es wurde systematisch Geschichtsfälschung betrieben.
Während seines Studiums ist Tim Stolte aufgefallen, dass die Lebensgeschichten vieler Komponisten unter den Teppich gekehrt wurden. „Mich hat immer gestört, dass mit zweierlei Maß gemessen wurde. Bei bekannten heterosexuellen Komponisten wurden die Biografien sehr gerne herangezogen, um ihre Werke zu interpretieren. Als ich das bei queeren Komponisten gemacht habe, Tschaikovsky oder Schubert zum Beispiel, hieß es oft, das sei völlig egal. Die Musik ist gut, da sei es nicht so wichtig, wer mit wem ins Bett geht“, erklärt Tim Stolte. „Es kann doch nicht sein, dass es keine Auswirkungen auf ihre Musik und ihren künstlerischen Output hat, wenn Menschen in ihrer Zeit nicht frei ausleben konnten, was sie empfunden haben, “ Damals habe er das hingenommen, aber nach dem er 2020 ein beeindruckendes Radiofeature vom Schweizer Rundfung über Chopin gehört hat, habe es ihn zum einen sehr aufgeregt, zum anderen aber auch ein völlig neues Hörerlebnis beschert. „So wurde die Idee geboren, dass ich ein Konzertprogramm entwickelte, bei dem ich queere Lebensgesichten erzähle und mit Musik in Beziehung setze.“

Der Schleier der heteronormativen Geschichtsschreibung soll gelüftet werden
Es ist aber natürlich auch ein bisschen queerer Aktionismus räumt Tim Stolte ein: „Es ist wichtig, den Schleier der heteronormativen Geschichtsschreibung zu lüften. Jahrhunderte falscher Berichterstattungen zu korrigieren, zum Nachdenken anzuregen und dabei – das ist mir ganz wichtig – Empathie zu wecken bei der Mehrheitsgesellschaft oder bei Menschen, die sich überhaupt nicht dem queeren Spektrum zuordnen.“ So ist es auch ein Bildungsprojekt, dass die Blickwinkel erweitert, weil über die Künstler:innen und ihre Geschichte auch die Musik nocheinmal ganz anders wahrgenommen werden kann.

Musik und Emotionen
Die Verbindung von Musik auf unsere Gefühle steht schon seit längerem im Fokus verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen – als Zuhörer ist es für uns eine wichtige Motivation beim Hören von Musik, egal welchen Genres, unsere Stimmung zu regulieren oder zu verstärken. Wer selbst musiziert, betritt zwei Ebenen mit denen er sich als Musiker:in auseinandersetzt. Zum einen die Technik zu erlernen, sei es für ein Instrument oder auch für die Stimme und zum anderen die eigene emotionale Seite des Musizierens.
Musik und Emotionen sind nicht voneinander trennbar. Wie können dann die Lebensgeschichten, die Tragödien wie auch die schönen Seiten des Lebens, wie das Verliebt sein oder der Trennungsschmerz, von der eigenen Kreativität und Schaffenskraft abgekoppelt sein?
Für Tim Stolte ist aber auch das Empowerment der queeren Bewegung mit Öffnung zur klassischen Musik ein wichtiger Punkt. „Eine weitere Motivation für das Projekt ist auch, dass wir die Sicht meiner Community  auf klassische Musiker:innen und Komponist:innen verändern möchten, weil wir die queeren Vorbildern der Musikgesichte sichtbar machen. Weiterhin war es mir wichtig, Frauen in den Fokus zu rücken. In meinem Studium spielten Frauen als Komponistinnen eigentlich gar keine Rolle. Abgesehen von der Hamburgerin Fanny Mendelssohn-Hänsel.“
Er hat sich dann auf die Suche gemacht und viel Recherchezeit investiert, um drei Frauen zu finden, die nicht nur fantastische Musik geschrieben haben, sondern auch ganz außergewöhnliche Persönlichkeiten waren:
„Ethel Smyth zum Einen: Sie war Suffragette in England und hat stark für Frauenrechte gekämpft. Sie war auch eine der wenigen, die sehr früh schon mit ihrem lesbischen Begehren nicht hinterm Berg gehalten hat. Eine sehr streitbare Person, die ganz tolle Musik geschrieben hat, darüber bin ich sehr froh. Zum anderen Henriëtte Bosmans (1885-1952), eine niederländische Komponistin, die im Zweiten Weltkrieg, weil sie Halbjüdin war, mit Berufsverbot belegt worden ist. Sie hat mit einer anderen sehr bemerkenswerten Frau, Frida Belinfante, zusammengelebt, für die sie auch ganz viel Musik geschrieben hat. Das ist einfach ganz wunderschön.
Und dann habe ich noch eine Person entdeckt, Peggy Glenville-Hicks. Sie stammt aus Australien und war in Europa, Amerika und ihrem Heimatland als Komponistin und Musikkritikerin tätig. Bekannt ist, dass Peggy Glenville-Hicks es ablehnte als „female Composer“ benannt zu werden. Anders als Ethel Smyth war Glenville-Hicks eine Betonung der eigenen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht eher unangenehm. Viele ihrer Texte und Kompositionen hat sie daher auch nur mit ihren Initialen versehen, um die geschlechtliche Zuordnung zu vermeiden. Interessant ist auch, dass sie im Privatleben mehrfach Beziehungen mit schwulen Männern geführt hat. Sie hat dann ihre eigene Erscheinung den Bedürfnissen ihrer Partner angepasst und sich eher männlich gekleidet. Ihre Ehe mit dem britischen Komponisten Stanley Bate war allerdings äußerst toxisch. Er hat sie psychisch und physisch misshandelt, sodass sie sich wieder von ihm trennte. Vielleicht würde Glennville-Hicks sich heute selbst als Genderfluid bezeichnen, also geschlechtlich fluide, aber das wissen wir natürlich nicht, da es diese Begriffe zu ihrer Zeit noch nicht gab. Zwei ihrer Lieder kommen in „Forget Me Not“ vor, in denen sich ihre Lebensgeschichte gewissermaßen wiederspiegelt. Wunderbare Musik, by the way …“

Mehr über die Komponist:innen erfahrt ihr auch auf der Projektwebsite https://www.forgetmenot-projekt.de/komponist-innen und natürlich beim Konzert.

Das Konzert in der Elbphilharmonie
Forget me not – Queere Komponist:innen mit Liedern und Songs von Ethel Smyth, Frédéric Chopin, Franz Schubert, Leonard Bernstein u.a. findet am Donnerstag, 26.9., 19.30 Uhr im kleinen Saal der Elbphilharmonie Hamburg statt.
Jetzt Karten bestellen:
https://www.elbphilharmonie.de/de/programm/forget-me-not-queere-komponistinnen/22544

Das Konzert wird im Rahmen des neuen PHŒNiX festivals veranstaltet. Die Erstausgabe „Verfemte Kultur lebt!“ vom 19. bis 29. September beleuchtet und feiert Kulturausdrücke, die durch den Nationalsozialismus bedroht und angegriffen wurden und in verschiedenen Formaten präsentiert werden: Swingtanz, jüdisch, queer, Jazz, Klassik, Sinti & Roma, Literatur, Burlesque, Oper, Kino, Kinder- und Jugendevents… Alle diese Themen tauchen im vielfältigen Programm auf. Ausgedacht hat sich das Festival einhornkollektiv – Agentur für kulturelle Transformation. Das junge Kultur-Start-Up wurde letztes Jahr von Daniel Stolte, Kristin Ebner und Tim Stolte gegründet und will die Kulturszene mit starken Projekten transformieren.
Das PHŒNiX festival ist nun das Ergebnis intensiver Vorarbeit, Planung und Vernetzung mit Hamburger Institutionen. Es soll die Hamburgerinnen und Hamburger – aber auch Gäste von außerhalb – emotional und lustvoll mit Kultur begeistern, die beinahe verloren war. Damit soll ein starkes Statement für gesellschaftlichen Zusammenhalt und gegen demokratiefeindliche Tendenzen gesetzt werden.
Das gesamte Festival-Programm ist online unter https://phoenix-festival.de/ zu finden. Das PHŒNiX festival wird durch die Behörde für Kultur und Medien Hamburg, den Fonds für kreative Zwischennutzung, die ZEIT Stiftung Bucerius, die Claussen-Simon-Stiftung, die Hamburgische Kulturstiftung, die Ingrid Bischoff-Stiftung, die K.S. Fischer-Stiftung und die GVL gefördert.

Eva Neuls

Weiterführende Links

Erwähnter Beitrag des SRF über Chopin:
Chopin war schwul – und niemand sollte davon erfahren. – Der polnische Komponist Frédéric Chopin hat seine Liebe zu Tytus Woyciechowski in Briefen beschrieben – die auf wundersame Weise verschwanden oder falsch übersetzt wurden.
https://www.srf.ch/kultur/musik/spaetes-outing-chopin-war-schwul-und-niemand-sollte-davon-erfahren

Sehr lesenswerte Beiträge stellt ardalpha zum Thema Musikforschung in der Mediathek zur Verfügung
https://www.srf.ch/kultur/musik/spaetes-outing-chopin-war-schwul-und-niemand-sollte-davon-erfahren

Grafikdesign: Goscha Nowak

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