Der Extremismus der Mitte
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Die in einer Blase sind immer nur die Anderen
Ralf Mützenich hat darauf hingewiesen, dass die Militarisierung der Gesellschaft ihm Sorge bereitet und dass er nicht überzeugt ist, dass wir damit auf dem richtigen Weg sind. Er weicht mit seinen Äußerungen vom öffentlichen Konsens ab. Boris Pistorius, momentan der beliebteste Politiker in Deutschland, steht für diesen Konsens: Wir müssen kriegstüchtig werden und wir brauchen eine Wehrpflicht.
Wer aus dem Konsens ausschert, hat es schwer. Das ist wenig verwunderlich, denn die Mehrheit hat nun mal die Mehrheit – auch in der Öffentlichkeit. Trotzdem ist die Härte, mit der abweichende Meinungen abgelehnt werden, überraschend. Offenbar ist es nicht gewollt, Zweifel zu haben. Ein großes Selbstbewusstsein kommt gut an. Klare Kante ist angesagt. Ich frage mich aber, was es für die Menschen jenseits der klaren Kante bedeutet, aus dem Konsens rauszufallen.
Wer einmal selbst erfahren hat, wie schwer es ist, die täglichen Pressenachrichten auszuhalten, wenn man an einem wichtigen Punkt eine vom Mainstream abweichende Meinung hat, wird vielleicht verstehen können, dass es Menschen gibt, die sich generell von der herrschenden Meinungsbildung abwenden. Viele von ihnen werden schweigen – um sich vielleicht bei Wahlen heimlich zu outen.
Spätestens seit der Corona-Krise, während der wir fast alle in der eigenen Umgebung erlebt haben, wie schwer es ist, andere Meinungen zuzulassen, geschweige denn zu akzeptieren. Vielleicht haben wir auch eine Ahnung davon bekommen, wie schwer es sein muss, eine Meinung gegen den Mainstream zu haben und durchzuhalten. Wir müssen verstehen lernen, dass die ausgrenzende Polarisierung nicht nur von den Rändern, sondern auch von der Mitte ausgeht.
Ich will nicht verneinen, dass es ein Problem ist, wenn Menschen sich in einer Blase befinden und abdriften. Nur, wir sollten nicht denken, dass es keine Blase der Mitte gibt. Eine solche Blase ist naturgemäß viel schwieriger auszumachen als die Blasen der sogenannten Ränder. Denn die Mitte hat nun mal Recht. Die in einer Blase sind immer nur die Anderen.
Corona, Krieg, Klima, Flüchtlinge – die Themen mehren sich, die es uns schwer machen, einen breiten Konsens zu bilden. Und hinter diesen Krisen steht wie immer auch die Frage von Armut und Reichtum, die uns viel mehr und viel grundsätzlicher beschäftigen sollte, als es jetzt der Fall ist. Auch das gehört zum Extremismus der Mitte. Es ist keine Zeit für Visionen.
Es gibt Gruppen wie die letzte Generation, die auch klare Kante zeigen. Aber das ist leider die falsche klare Kante. Es mag sein, dass die letzte Generation eine falsche Strategie gewählt hat. Aber statt diese Menschen zu kriminalisieren, müssen wir lernen, die Ohnmacht der Minderheit und die damit verbundene Radikalität zu verstehen. Wir müssen besser mit Minderheiten umgehen, auch wenn sie Meinungen vertreten, die uns nicht gefallen.
Ich bin froh, dass es innerhalb der SPD nicht nur einen Boris Pistorius, sondern auch einen Ralf Mützenich gibt. Und einen Klaus von Donanyi, der entschieden hat, Sarah Wagenknecht zu unterstützen. Ist das schlimm? Ist es eine Schwäche einer Partei, wenn sie nicht einstimmig redet? Nein, es ist eine Stärke, die wir begrüßen sollten.
Gerard Minnaard