Leben auf Wiedervorlage
teilen
Zu Gast bei Gerhard Henschel alias Martin Schlosser
Wasserschäden sind immer ein Desaster und Katastrophe, fallen sie größer aus. Wenn fast der ganze Lebensraum einer Wohnung (und der Keller dazu) jedoch Archiv ist, ist unkontrolliert fließendes Element ziemlich schlimm. So treffe ich Gerhard Henschel bei meinem Besuch in seiner Bevenser Wohnung inmitten von in Haushaltspapier trocknenden Blättern und auf dem Fußboden aufgeschlagenen Ordnern. Der Platz reicht immer für eine Akte normalen Umfangs, die restlichen sind eingefroren, damit sich der Schimmel nicht durch wertvolles Schriftgut frisst. Im November wird er wahrscheinlich mit den 85 betroffenen Ordnern fertig sein, sagt er. Man denkt angesichts des Dilemmas unwillkürlich an die brennende Anna-Amalia-Bibliothek oder das eingestürzte Kölner Stadtarchiv. Gut, ganz so dramatisch ist es nicht; es geht nicht um Jahrhunderte. Aber immerhin um ein Familienleben über mindestens drei Generationen.
Wer ist eigentlich Gerhard Henschel? Oder vielleicht haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, schon einmal von Martin Schlosser gehört? Dann sind Sie auf der richtigen Spur des 62-jährigen Schriftstellers, der in der Kurstadt lebt, und dessen autofiktionale Chronik schon zweistellig in der Anzahl der Bände ist. In diesem Jahr erschien die Nummer 10 („Schelmenroman“), die Nummer 11 („Frauenroman“) liegt bereits beim Verlag, an der 12 schreibt der Autor. Es muss Bürde und Lust gleichermaßen sein, in einer Familie aufgewachsen zu sein, wo auch die Großeltern und Eltern jedes Stück Papier aufzuheben schienen, Briefe sowieso. Und deshalb wohnt Henschel zwischen gelebtem Leben, das zu einem riesigen Ordner gerann. Denn natürlich setzte er eifrig fort, was er ererbte und – vielleicht hält er es mit Goethe und seinem „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ – er macht was draus. In Bälde zwölf Martin-Schlosser-Romane, Ende offen.
Manchmal scheint es, einen Unterschied zwischen Gerhard Henschel und Martin Schlosser gibt es nicht, denn natürlich ist die Kunstfigur sein Alter Ego. Google sagt darüber: Alter Ego
ginge auf Cicero zurück, der um 44 v. Chr. schrieb „verus amicus … est …tamquam alter idem.“ (‚Ein wahrer Freund ist gleichsam ein zweites Selbst‘). Der Philosoph griff dabei auf einen Ausspruch Zenos zurück. Die abgewandelte Bezeichnung ist mittlerweile in vielen Sprachen ein geflügeltes Wort für ein zweites anderes Ich von sehr vertrauten Freunden. Aber wer wäre einem näher als man selbst?
Gerhard Henschel (und Martin Schlosser) wurden im Jahr 1962 in Hannover geboren, wuchsen in Rheinland-Pfalz auf, legten das Abitur in Meppen ab (1981). Danach haben Henschel und Schlosser „hier und da studiert“, in Bielefeld, Berlin und Köln. Allerdings solche brotlosen „Taxifahrerfächer“ wie Germanistik. Lang reicht die Geduld fürs Studieren sowieso nicht. Im Jahr 1986 beschloss der 24-Jährige, freier Schriftsteller zu werden. Das kann man kühn nennen oder Anmaßung. Selbstüberschätzung vielleicht auch. Seine Eltern waren entsprechend unamüsiert. Trotzdem bricht Henschel das Studium ab und sagt heute: „Ab 1990 konnte ich vom Schreiben leben.“ Ein Glücksfall ohne Frage, denn wer schaffte das schon so schnell. Mit der Herausgabe der Briefe seiner Großeltern und Eltern („Die Liebenden“, 2002) stellt sich der erste richtige Erfolg ein, sodass im Jahr 2004 der erste Band der unendlichen Geschichte Martin Schlosser erscheint („Kindheitsroman“).
Angeregt fühlte sich Henschel durch Walter Kempowski, dessen Werke er las und sich fragte: Warum gibt es das nicht für unsere Generation? Denn beispielsweise die „Deutsche Chronik“ ist eine neunbändige Buchreihe von Kempowski, die aus sechs Romanen und drei Befragungsbüchern besteht. Der Autor (1929 bis 2007) erzählte die Geschichte des Niedergangs des deutschen Bürgertums im 20. Jahrhundert und nutzt dafür exemplarisch seine eigene Familiengeschichte, ergänzt die aber durch drei Bücher, mit denen relativiert wird, in denen sich eine Reihe unbekannter Deutscher zu einer vorgegebenen Frage äußerten.
Gerhard Henschel lässt den Blickrichtungswechsel weg, er erzählt als Martin Schlosser munter drauf los. Eigenes Leben, eingebettet in die Zeit. Er sagt aber: „… wobei das Innenleben von Martin Schlosser keine Rolle spielt, denn es geht um die Außenwelt.“
So ist Henschel der König, der dem Narren in sich die Leine lässt. Oder ist sein Schreiben, sein Leben, als eine ständige Arbeit an ein bisschen Fassung zu lesen? Denn Zugehörigkeit muss man ja erleben, kann man nicht definieren. So schwimmt der Schreiber im Wasserfall der Zeit, weil am Ende immer zählt, was man macht oder lässt, und nicht, was man lieber gemacht oder gelassen hätte.
Aber ist solch Lebensbeschreibung auch Literatur? Denn Literatur ist ja eigentlich nicht, wenn einer aufschreibt, was er fühlt oder denkt, was passierte oder woran er sich erinnert. Zur Literatur wird es doch erst, wenn andere sich erinnern, bei den Lesern eine Welt (wieder) aufersteht, die vergessen schien. Was bringt es, eigenes gelebtes Leben immer auf Wiedervorlage zu halten? Taugen die Ego-Erkenntnisse für mehr? Gerhard Henschel kann sich über eine treue Fangemeinde von Beginn an freuen, auch der Verlag hätte ihm die Treue gehalten, sagt er. „Eigentlich hatte ich nicht vor, eine ganze Reihe zu machen“, sagt der Autor. Aber dann stand er da vor diesem Riesenarchiv, das natürlich ständig weiterwächst, und mit dem „Kindheitsroman“ und dem zweiten Band, dem „Jugendroman“, hatte die Hauptfigur immer noch kein Abitur gemacht… Also musste er immer weiter.
Hat er nicht manchmal Zweifel? Diese Frage verneint Gerhard Henschel. „Schlimm wäre es, wenn ich nichts anderes schriebe“, erklärt er solcherart Selbstbewusstsein. Denn er schreibt zudem Krimis, Satirisches und sogar Schlagertexte. Einer der Lyrics wurde vom Komponisten Christian Bruhn, der den Drafi-Deutscher-Hit „Marmor, Stein und Eisen bricht“, diesen Schlager mit dem fatalen grammatikalischen Fehler, in Noten setzte, vertont. Der Text mag ein wenig tiefgründiger sein, die Noten gehorchen dem deutschen Vierviertelduktus der Karnevalsbelustigung. Aber sei`s drum. Der nächste Krimi jedenfalls, „Mord auf Hohenhaus“, erscheint im Januar. Nach „Börsen-“, „Heide-“ und „Fußballfieber“, Krimis, die persiflieren und grotesk übertreiben. Also: Geschmackssache.
„Es besteht die Chance, dass ich mir näher komme“, kokettiert Gerhard Henschel, der mit seiner ganzen Reihe noch nicht die Jahrtausendmarke riss, insgesamt aber 55 Bücher schrieb. Seine drei Kinder sind noch nicht geboren im Buch! Ja, er sei „ein Spätgebärender“ gibt er zu. In die Archivarbeit ist der Nachwuchs schon beizeiten integriert: Als seine Tochter, zwölfjährig, einen Brief an ihre Freundin schrieb, bat der Vater zaghaft um eine Kopie. „Aber Papa, die liegt doch schon längst auf deinem Schreibtisch“, lautete die Antwort an den verblüfften Vater. So wächst der Papierschatz mit nützlichen Dokumenten und vielen kleinen Nebensächlichkeiten ins Unermessliche, es bleibt also noch eine Menge zu tun neben dem Trocknen des gewässerten Archivs. Man wird weiterhin von Martin Schlosser hören.
Im Januar liest Gerhard Henschel bei den „Weingeistern“ im Neuen Schauspielhaus.
Barbara Kaiser