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Feuilleton

Die Kamera weggelegt

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Zum Tod des Fotografen und Chronisten Dieter Pietsch

Wieder ist ein Mensch gegangen, der zum Stadtbild gehörte. Dieter Pietsch ist gestorben. Eine Nachricht, die wie jede endgültige Meldung erschüttert. So wie er gelebt hatte, nämlich sich im Hintergrund haltend, ist er gestorben. Er wurde 75 Jahre alt.

Dieter Pietsch war Jahrgang 1949. In Celle geboren, lernte er Automechaniker, konnte jedoch wegen eines schweren Unfalls kurz vor der Gesellenfreisprechung im Jahr 1969, den er als Beifahrer überlebte, diesen Beruf nicht ausüben. Als er nach eineinhalb Jahren das Krankenhaus verlassen durfte, wusste er, dass er Fotograf werden will. Schon als Lehrling war er nie ohne Kamera anzutreffen gewesen. Folgerichtig besuchte der die Fachschule für Fotografie Hamburg.

Dieter Pietsch: 03. Juli 1949 bis 27. November 2024

Angefangen in Uelzen hatte er als ABM, als „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“, später arbeitete er im Kreismedienzentrum. Dieter Pietsch veröffentlichte mehrere Bücher, die die Entwicklung in Stadt und Landkreis Uelzen veranschaulichen. Auch außerhalb seines Berufes, der für ihn noch von Berufung kam und den er entsprechend ernst nahm – er sagte nie „Job“, sondern immer „Beruf“ – fotografierte er quasi immer.

Pietsch sah sich nicht als Künstler, sondern als Dokumentarist. Das machte seine Fotos zum vitalen Abglanz von gelebtem Leben. Ohne Schnickschnack erzählen sie von der Schönheit des Profanen. Es sind Fotografien, wie sie heute sekündlich entstehen – jedes Handy hat eine Kamera – um den Moment festzuhalten. Vor 100 Jahren war Fotografie noch Inszenierung von Realität. Heute ist alles authentischer. Manchmal auch peinlicher. Allerdings nicht bei Dieter Pietsch. Der war immer auf der Spur der Alltagsgeschichten, die nicht erst in 50 Jahren Geschichte sind. Weltgeschichte eher nicht. Aber die ist ja sowieso eine kapriziöse Dame, die unberechenbar „an der falschen Stelle lacht“. Wie es der 2011er Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer in einem Gedicht schrieb.

Dieter Pietsch hat Reinhard Schamuhn und dessen buntes Treiben dokumentiert und die Abrissarbeiten in Uelzens Innenstadt. Er hat auch Landschaft fotografiert. Diese mit dem Auge des Realisten durchschauend, reichte der Fotograf zugleich die Imagination des Zauberhaften mit. Zahlreiche seiner Arbeiten beweisen den Meister des entscheidenden Augenblicks, wo das Bild am meisten erzählt, die größte Spannung hat. Zudem sind sie dokumentarische und ästhetische Leistung.

Entweder man sieht`s oder man sieht`s nicht“, erklärte der Fotograf seine Arbeitsweise. Dieter Pietsch sah`s! Seine Arbeiten zeigen Uelzener; bekannte und unbekannte, mit Prominenten, in Aktion oder still. Es sind Schnappschüsse und historische Dokumente. Zum Lachen, zum wieder Erkennen oder Nachdenken. Beispiel: Ein Bürgermeister, der, nach dem Fassbieranstich, jeder Karnevalssitzung zur Ehre gereichte. Ein Landrat, der ganz nachdenklich und in sich versunken mit seinen fünf Fingern zu rechnen scheint. Die Bäuerin aus Ostedt, zum Schwatz übern Gartenzaun aufgelegt. Das Pärchen, das selbstvergessen aneinander lehnt. Bundespolitiker mit örtlicher Prominenz fehlen ebenso wenig wie das Uelzener Udo-Lindenberg-Double, mit dem Original posierend.

Ja, die Zeit geht rum“, war einer der Lieblingssprüche von Dieter Pietsch. Kein Wunder, er sah anhand seiner Arbeit am besten, wie schnell die Jahre eilten. Und da ist es gut, einen zu haben, der dem flüchtigen Augenblick die Freude, die Trauer, die Nachdenklichkeit entreißt und festhält. Ohne, dass hier einem „verweile doch, du bist so schön“ das Wort geredet werden soll!

Die Fotos von Dieter Pietsch waren stets zuverlässige Chroniken. Die Kamera hatte er sein Leben lang nicht aus der Hand gelegt. Es sei ja „für die Nachwelt“, sagte er und bedauerte, dass er die nicht mehr erleben würde. Aber schließlich geht es uns allen so. Wir sitzen vor dem fotografischen Familiennachlass, kichern hier und da und suchen Ähnlichkeiten. Auch vor den Bildern Dieter Pietschs konnte man manchmal kichern. Über den Jungschützen beispielsweise, dem vor lauter Müdigkeit nach drei Tagen Schützenfest die Nase juckt. Über die große Wasserfontäne, die beim Start der Rallye die Brühtrogkapitäne erwartet. Darüber, dass Ursula von der Leyen und Claus-Dieter Reese bei einem Besuch an der Wolterburger Mühle nahezu synchron mit der Zunge die Lippen lecken oder die Dame mit dem großen roten Hut, die Kulisse für „Willem den Ersten“ war.

Ein gutes Foto sei der in sich vollkommene Moment, auf den man warten können muss, sagte der Fotograf Arno Fischer (gestorben 2011). Die Fotos, die Dieter Pietsch machte, waren eher Zufallsprodukte, die allerdings das auf der Lauer liegen, das genaue Beobachten voraussetzten. „Ich muss nicht im Vordergrund stehen“, sagte Pietsch. „Ich muss nicht den Max markieren und mir freies Feld verschaffen. Ich kriege das Foto, das ich will. Ich muss nicht Regie führen, nur beobachten.“ Und solche Fotos kamen dabei heraus: Niemals voyeuristische, die Aufnahmen reden immer auch von der Nachsicht, die der Mann hinter der Kamera mit seinen Subjekten davor hatte.

Jetzt hat er seine Fotoapparate beiseitegelegt. Dieter Pietsch ist nicht mehr da; so wie er gelebt hatte, ist er gegangen. Leise, still, unaufdringlich. Deshalb soll hier an ihn erinnert werden. Die Stadt und der Landkreis haben einen Chronisten verloren.

Barbara Kaiser – 09. Dezember 2024

Bestattungshaus Kaiser